Das Geheimnis der Abtei – ein dichter Schleier aus Schweigen, Pflicht und Erinnerung, gewebt von einem Autor, dessen Urheberschaft bis heute mit einem kaum greifbaren Zweifel behaftet ist.
Der Erzählrahmen trägt den Titel Aus den Erinnerungen einer Erzieherin – und schon das weckt Vertrauen wie Misstrauen zugleich. Ein Haus, eine Abtei, ein verborgener Raum, eine stumme Zeugin: Die Handlung wirkt wie ein kompliziertes Uhrwerk, in dessen Zahnrädern Schuld und Unausgesprochenes sich verfangen. Die Abtei fungiert als Kulisse und psychischer Raum zugleich – Architektur als Spiegel innerer Geheimnisse.
Collins (oder der vermeintliche Collins) navigiert durch ihn bekannte Themen: doppelte Identitäten, verzerrte Wahrnehmung, die Spannung zwischen öffentlichen Rollen und privaten Abgründen. Er schreibt mit der Gewandtheit eines Erzählers, der sich zwischen Andeutung und Enthüllung bewegt, und bringt den Leser dazu, seinen Blick zu schärfen: Wer spricht wann, und was wird verschwiegen?
Doch das Werk ist nicht ohne Schatten. Der fragmentarische Charakter – Kapitel, Erinnerungsstücke, Lücken – erzeugt Atmosphäre, kann aber auch Irritation stiften. Einige Wendungen wirken konstruiert, und der Erzählerstandpunkt ist gelegentlich so vage, dass man sich fragt, wer hier wirklich die Kontrolle hat.
Dennoch: Das Geheimnis der Abtei entfaltet seinen Reiz in der Zwielichtigkeit, in der Mischung aus klassischem Mystery und viktorianischer Geheimnishaftigkeit. Für moderne Leser ist das Buch weniger ein actionreicher Krimi als ein psychologischer Spiegel, in dem die schleichende Kraft des Verborgenen zu wirken beginnt.
Übersetzer: L. Du. Bois 1868
Editor: Hans-Jürgen Horn, Daniel Stark - wilkiecollins.de |