Ein Schleier aus Täuschung, Liebe und Wahnsinn – und darunter das Herz einer Frau, die sich gegen ihr Schicksal erhebt.
Wilkie Collins’ Roman Die Frau in Weiß (1860) begründete ein neues Genre: den Sensation Novel – eine Mischung aus Krimi, Gothic-Romantik und Gesellschaftsdrama. Kaum ein Werk hat das viktorianische Publikum so gefesselt wie dieses geheimnisvolle Geflecht aus Identität, Betrug und weiblicher Ohnmacht.
Der junge Zeichenlehrer Walter Hartright begegnet auf nächtlicher Landstraße einer verstörten Frau in Weiß – einem Gespenst aus Fleisch und Blut, das ein dunkles Geheimnis trägt. Bald darauf trifft er in Limmeridge House auf die Schwestern Laura Fairlie und Marian Halcombe, deren Leben unauflöslich mit jenem Rätsel verwoben ist. Was folgt, ist ein Spiel aus Täuschung und Wahrheit: der skrupellose Sir Percival Glyde und der charismatisch-bedrohliche Conte Fosco spinnen ihre Intrigen um Geld, Macht und Besitz.
In wechselnden Ich-Berichten entfaltet Collins ein Panorama der viktorianischen Gesellschaft – nüchtern, emotional, beklemmend echt. Besonders Marian Halcombe wird zur heimlichen Heldin: stark, klug und mutig in einer Zeit, die Frauen kaum Stimme ließ. Die Titelfigur, die geheimnisvolle Frau in Weiß, verkörpert dagegen die Schattenseite dieser Gesellschaft – verdrängte Wahrheit, weibliche Angst und den Schrei nach Gerechtigkeit.
Mit psychologischer Tiefe, moralischem Ernst und fast kriminalistischer Präzision zeigt Collins, dass das wahre Grauen nicht in Spukgestalten, sondern im sozialen System liegt. Die Frau in Weiß bleibt ein Meilenstein – düster, elegant, voller Empathie für die Gefangenen ihrer Zeit.
Überarbeitete Version Oktober 2020 mit Illustrationen
Übersetzer: Marie Scott, 1861
Editor: Hans-Jürgen Horn
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